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Die Rosen von Whitmore Castle

Der Frühling 1906 war ins Land gezogen und hatte die Wiese vor unserem Landsitz in ein weißes Blütenmeer verwandelt. Meine ältere Schwester Rose saß wie so oft am Fenster. Doch sie sah nicht die Schönheit der erwachenden Natur. Weder die Schneeglöckchen, noch der Klang meines Klavierspiels erregten ihr Interesse - ihr Blick war starr und ging in die Ferne.

Es ist kaum zu glauben, doch noch vor ein paar Monaten haben wir zusammen auf dem Sommerball der Smiths getanzt. Rose hatte sich auf dem Fest mit Lord Robert Smith verlobt und im Frühjahr wollten die beiden heiraten. Was waren sie für ein hübsches Paar gewesen! Meine Schwester trug an diesem Abend ein wunderschönes Kleid, das eine Schneiderin nach dem Bild „Windflowers“ von Waterhouse geschaffen hatte. Mit der rosafarbenen Rosenblüte in ihren hochgesteckten, dunklen Haaren, sah sie aus, als wäre sie einem Gemälde entsprungen. Ach, die Erinnerung tat so weh!Es war mein erster Ball, denn ich wurde an diesem Abend in die Gesellschaft eingeführt. Rose hatte mir eine gelbe Rose in meine blonden Haare gesteckt und gesagt „Elaine, in dem cremefarbenen Kleid siehst du einfach hinreißend aus. Die Kavaliere werden sich um dich reißen!“ Ich hatte nur gekichert und für mich gedacht „Gewiss werden die wohl eher Robert beneiden!“ Wenn ich geahnt hätte, was passieren würde, wäre mir das Lachen wohl im Halse stecken geblieben!Ja, einer war es auf jeden Fall, der damals schon Robert beneidete! Er war aus London aufs Land zu seinem Cousin gekommen und stellte sich auf dem Sommerball als William Cavendish vor. Als ich sah, wie sein Blick auf Rose fiel, hatte ich schon kein gutes Gefühl und dass er sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft niedergelassen hatte, machte es nicht besser. Es dauerte nicht lange und er bat meine Schwester um einen Tanz. Etwas dunkles, Geheimnisvolles umgab ihn, das spürte ich sofort, doch Rose sperrte sich dagegen. „Rose, sei bitte vorsichtig, ich trau diesem Mann nicht. Niemand weiß näheres über ihn und es gehen Gerüchte...“ „Elaine, du siehst Gespenster!“ wehrte sie meine Bedenken ab und ließ sich nur allzu gerne von dem gutaussehendem William, der noch dazu über tadellose Manieren verfügte, für einen weiteren Tanz in die Mitte des Saales führen. Was sollte ich tun? Solange sie die Etikette wahrte, blieb mir nur zu hoffen, dass William sich als völlig harmlos erwies.

Aber spätestens als die Herbststürme kamen und Robert für ein Quartal an den englischen Königshof musste, nutzte William seine Abwesenheit schamlos aus.  Er machte Rose bei jeder sich bietenden Gelegenheit Komplimente, tauschte mit ihr Bücher und Gedichtbände aus. Bei Abendgesellschaften betrieben die beiden Konversation über Schriftsteller, deren neueste Romane, Gott und die Welt. „Er verdreht dir noch  völlig den Kopf!“ sagte ich zu Rose, als sie wieder einmal von William schwärmte. Seit geraumer Zeit machte ich mir ernsthaft Sorgen um meine Schwester. „Es ist alles ganz harmlos, Elaine! Will ist ein guter Freund, mehr nicht.“, meinte sie. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, das sie sich da in etwas verrannt hatte.

Auf den Silvesterball, der diesmal auf unserem Landsitz stattfand, hatte Rose neben Henry Cavendish auch seinen Cousin William eingeladen. Als Dame des Hauses war das ihr gutes Recht. Unsere Eltern waren vor ein paar Jahren bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen und so war es an meiner  älteren Schwester, bestimmte Pflichten zu erfüllen. Ich sah, wie Rose mit William herum turtelte und beschloss, die zwei im Auge zu behalten. Als um Mitternacht das Feuerwerk begann, standen sie noch auf der Steintreppe, die zum Park hinunter führte. Ich hatte mich nur kurz dazu hinreißen lassen, die bunten Raketen zu bestaunen und schon waren die beiden verschwunden. Eine böse Ahnung beschlich mich. Ich wollte mich eben auf die Suche nach ihnen begeben, da kam Rose plötzlich einer Schlafwandlerin gleich aus dem Park. Eilig lief ich ihr entgegen „Rose, Rose, was ist passiert?“, fragte ich ängstlich, doch sie sah mich weder an, noch antwortete sie mir. Ich war froh, dass der Ball bei uns stattfand, denn so konnte ich meine völlig apathische Schwester ohne große Erklärungen schnell auf ihr Zimmer bringen.

Rose, nach wie vor eine Schönheit, galt seit dem Vorfall als verwirrt. Kein einziges Wort ist seit jener Nacht mehr über ihre Lippen gekommen. Was haben wir nicht alles versucht, um Rose aus ihrem Zustand zu befreien. Doch niemand konnte meiner Schwester helfen. Selbst Robert hatte lange Zeit vergeblich versucht, zu ihr vorzudringen, doch ohne Erfolg.

Ich war inzwischen vom Klavier aufgestanden und zu Rose ans Fenster gegangen. Langsam nahm ich sie bei der Hand. Mein Blick folgte dem ihren und ich sah, wie allmählich die Abenddämmerung hereinbrach. Der Himmel färbte sich bereits dunkelblau, als ich zusammen mit Rose Whitmore Castle verließ. Die frische Luft würde uns beiden gut tun! Wir waren eben im Schlosspark angekommen, als  jemand zwischen den Bäumen auftauchte. „Ah, da sind ja die reizenden Whitmore-Schwestern“, stellte der Ankömmling fest. „William Cavendish!“, dachte ich voller Groll. Dass er es wagte, hierher zu kommen! Ich wusste zwar nicht, was an Silvester vorgefallen war, aber für mich stand fest, dass William Cavendish für den Zustand meiner Schwester verantwortlich war.„Eigentlich William Cavendish, Duke of Devonshire, aber für Sie Lady Elaine einfach nur Will und ja Sie haben recht, ich bin für den Zustand Ihrer Schwester Rose verantwortlich!“ Er lächelte geheimnisvoll. Hatte William eben meine Gedanken gelesen? Wie war das nur möglich? Und was hatte er meiner Schwester angetan? In der Familie Cavendish trug doch immer nur einer den Titel Duke of Devonshire und der hieß James! Was hatte das alles zu bedeuten? Ich war verwirrt. „Ja, schuldig im Sinne der Anklage! Ich habe Ihre Gedanken gelesen. Warum? Weil ich diese Fähigkeit besitze! Nun gut, ich möchte nicht länger Versteck spielen. Ich bin ein an die 180 Jahre alter Vampir und war zu meiner Lebenszeit der amtierende Duke of Devonshire.Ihre Schwester Rose steht seit dem Silvesterball unter meinem Einfluss und das wird sie auch weiterhin, wenn Sie nicht auf meine Forderung eingehen.“Alles in mir rebellierte. Es gibt keine Vampire! Er lachte mir frech ins Gesicht und entblößte dabei zwei messerscharfe Reißzähne. Unwillkürlich wich ich zurück. Ich starrte die geistesabwesende Rose an, dann wieder ihn. „Du Monster! Was hast du ihr nur angetan!“ schrie ich. „Was für ein Temperament Ihr habt, Lady Elaine. Henry wird entzückt sein!“Henry Cavendish? Was hatte der damit zu tun? fragte ich mich in Gedanken und bekam promt die Antwort.„Ich bin wegen Henry hier. In seinem Namen möchte ich um Eure Hand bitten, werte Lady Elaine“, sagte William und verneigte sich vor mir. „Heiratet Ihr Henry Cavendish, dann erlöse ich Rose von meinem Bann. Darauf mein Wort“, fügte er ernst hinzu.Darum war es ihm also die ganze Zeit wirklich gegangen. Er hatte Rose nur benutzt, sie absichtlich manipuliert, um mich dann erpressen zu können! Fassungslos starrte ich ihn an. Mir wurde augenblicklich übel und ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. „Ach Rose“, dachte ich, „in was für ein Scheusal hast du dich da verliebt!“  Henry Cavendish war schon fast dreißig und obwohl eigentlich recht hübsch, noch unverheiratet. Wahrscheinlich lag es an seiner etwas schüchternen Art, dass er noch keine Frau abbekommen hatte. Auf dem Sommerball der Smiths bat er mich um einen Tanz, doch ich hatte Richard Graham den Vorzug gegeben. Henry Cavendish war mir zwar nicht unsympathisch, aber auf die Idee, ihn zu heiraten, wäre ich im Leben nie gekommen! Komisch, auf mich hatte Henry eigentlich einen recht netten Eindruck hinterlassen. Ich stutzte.„Moment! Ich nehme mal an, Henry weiß gar nichts von deinen Machenschaften im Hintergrund?“ forschte ich nach.

„Natürlich nicht. Er glaubt ja auch brav, ich sei sein Cousin, der aus London hergekommen ist. Frische Landluft soll schließlich gegen allerlei Krankheiten helfen und ich bin ziemlich blass, wie Ihr sicher schon bemerkt haben werdet. In Wahrheit ist Henry ein Nachkomme meines Bruders Frederick“, antwortete er amüsiert. „Der Heiratsantrag kommt natürlich von Henry selbst. Ich musste ihm lediglich ein bisschen Mut machen, was die Erfolgsaussichten betrifft“, fügte er kalt lächelnd hinzu. „Warum tust du das? Was hast du davon?“, wollte ich wissen.„Du hast Recht, Elaine! Wir sollten uns duzen, jetzt wo wir doch schon so gut wie miteinander verwandt sind. Weißt du, Henry schwärmt seit dem Sommerball für dich. Er ist in dich verliebt und das genügt mir völlig. Ich möchte, dass er glücklich ist!“„Oh wie edel von dir! Was weißt du schon von Liebe?“, antwortete ich zynisch.„Mehr als du vielleicht ahnst!“ Ein melancholischer Ausdruck trat in seine dunklen Augen.„Was ist Rose eigentlich für dich? Liebst du sie?“Er hüllte sich in undurchdringliches Schweigen.„Nun, wie sieht es aus? Nimmst du Henrys Antrag an?“, fragte er nach einer Weile.Die Gedanken kreisten in meinem Kopf. So übel ist Henry bestimmt nicht und ich bekam meine Schwester zurück, wenn ich auf Williams Forderung einging. Außerdem war es meine Pflicht, Rose zu helfen. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Aber du verstehst schon, das ich meine Schwester bei der Verlobungsfeier und der Hochzeit dabei  haben möchte und zwar nicht in ihrem jetzigen Zustand!“„Aber gewiss meine liebe Elaine. Sei versichert, das ich Rose sofort von ihrem Bann befreien werde, sollte ich Henry eine positive Antwort auf seine Werbung überbringen dürfen.“ „Also gut, ich werde Henry  heiraten“, antwortete ich resigniert.

William schaute Rose tief in die Augen und konzentrierte sich auf sie. Kurz darauf erwachte meine Schwester langsam aus der Starre. Ihre leeren Augen füllten sich wieder mit Leben und sie begann zu sprechen.„Oh, Elaine! Hast du uns gesucht? “Gewiss, aber nun habe ich euch ja gefunden. William muss jetzt gleich gehen“, stellte ich fest.„Aber ist es denn schon so spät?“, fragte Rose. „Komisch, wo ist der Schnee  ...und was ist mit meinem Ballkleid passiert?“Sie dachte tatsächlich, der Silvesterball wäre noch in vollem Gange!„Ich erkläre dir alles, nachdem William gegangen ist.“, antwortete ich und schaute den Duke of Devonshire durchdringend an.„Also dann möchte ich mich für heute von den Damen verabschieden. Ich bin mir sicher, wir sehen uns bald wieder!“ Er verbeugte sich höflich und ging dann die Allee entlang.„Auf Wiedersehen, Will“, zwitscherte Rose hinter ihm her.Meine Schwester staunte nicht schlecht, als sie erfuhr, was die vergangenen Monate alles geschehen war. In ihrem Zustand hatte sie nichts von alledem mitbekommen. Das ein gewisser Vampir, der auf den Namen William hörte, mich erpresste, verschwieg ich Rose dabei ganz bewusst.

Sir Robert Smith war überglücklich, als er von der überraschenden Genesung meiner Schwester erfuhr und kam, um sie zu besuchen. Doch Rose wollte ihn nicht sehen. Schweren Herzens schickte ich ihn mit der Begründung, dass meine Schwester noch etwas schwach ist, davon.„Elaine, ich glaube du hast Recht. Ich habe mich in Will verliebt!“, gestand sie mir, nachdem Robert gegangen war. Ich hatte es ja bereits befürchtet und doch traf mich ein Stich mitten ins Herz, als ich es nun aus ihrem Munde hörte. „William ist nichts für dich, bitte glaub mir Rose!“, flehte ich sie an.„Selbst wenn du Recht hättest mit deinen Vermutungen, ich kann jetzt nicht mehr zurück. Es wäre auch Robert gegenüber unfair.“, sprach sie. Vermutungen? Oh wenn es nur welche wären, dachte ich bitter. Aber was konnte ich schon gegen ihre Gefühle tun? Noch vor meiner Verlobungsfeier mit Henry Cavendish trennte sich Rose von Robert.

Meine Schwester war zwar erstaunt, dass ich mich mit Henry verloben wollte, schöpfte jedoch keinen Verdacht. Als die ersten Gäste bei uns eintrafen, ging Rose nach unten, um sie zu begrüßen. Aufgeregt lief ich in meinem Abendkleid, - einem Traum aus lachsfarbenem und zartgrünem Stoff -, zum Spiegel und kontrollierte ein letztes Mal meine Hochsteckfrisur. Unser Butler John meldete schließlich das Eintreffen von William und Henry Cavendish. Mein Herz klopfte, bis zum Hals  während ich langsam die große Treppe in den Saal hinunter schritt und die bewundernden Blicke unserer Gäste genoss. Ich lief zu meiner Schwester, die ebenso wie ich ein Kleid im modernen Empire-Stil trug und mit William und Henry an der Eingangstür stand. Auch ich begrüßte die beiden Ehrengäste mit einem „Willkommen auf Whitmore Castle!“ Henry sah mich staunend an, verbeugte sich vor mir und küsste meine Hand. „Lady Elaine, Ihr seht hinreißend aus!“ Dann überreichte er mir einen Blumenstrauß, bestehend aus allerlei Frühblühern. „Oh die sind wunderschön, vielen Dank!“ Ich lächelte ihn an und gab Jane, unserem Dienstmädchen den Strauß, damit sie ihn in eine Vase stellen konnte. Während Rose sich angeregt mit William unterhielt, ließ ich mich von Henry Cavendish in den Saal führen. Dort angekommen, versuchte ich dem zurückhaltenden Henry ein Gespräch zu entlocken, um ihn erst einmal kennen zu lernen. Es gelang mir und so erfuhr ich einiges über ihn. Wir entdeckten sogar gemeinsame Leidenschaften, wie die Malerei und das Reiten. Es war erstaunlich. In Henry schlummerte ein sympathischer, intellektueller Mann! Ich war darüber sehr erleichtert.Inzwischen waren alle Gäste eingetroffen und der Verlobungsball begann. Rose eröffnete den Tanz mit William, anschließend bat Henry mich um meinen ersten Walzer. Die Zeit verging wie im Flug und um Mitternacht kam schließlich der große Moment. Die Mitte des Saales hatte sich geleert, nur ich und Henry blieben zurück. Ich lächelte Henry ermunternd zu. Er kniete vor mir nieder. „Lady Elaine Whitmore, wollt Ihr meine Frau werden?“, fragte er mich. Wie ich es William versprochen hatte, antwortete ich mit einem „Ja!“ Überglücklich steckte mir Henry den Verlobungsring an den Finger, dann küsste er mich schüchtern. Rings um uns applaudierten die Gäste. Meine Schwester und William kamen, um uns zu gratulieren und William zwinkerte mir zu. Bastard!, dachte ich. Na wenigstens war Henry ein Ehrenmann! Ich betrachtete den Verlobungsring näher und mir stockte der Atem. Er musste ein Vermögen gekostet haben! Der Diamant funkelte im Schein der Kronleuchter. „Was für ein schöner Ring!“, entfuhr es mir unwillkürlich. „Es freut mich sehr, dass er dir gefällt! Ich habe ihn extra für dich anfertigen lassen.“ Henry lächelte mich an und ich lächelte zurück. Nach unserem Ehrenwalzer verabschiedeten sich die ersten Gäste und es dauerte nicht lange, da ging der Verlobungsball seinem  Ende entgegen.

In den nächsten Wochen verbrachten Henry und ich viel Zeit miteinander. Ich lud ihn oft zum Nachmittagstee ein und hinterher gingen wir noch im Park spazieren oder ritten gemeinsam aus. Er war immer ein aufmerksamer Zuhörer, stets freundlich und zuvorkommend. Mit der Zeit verliebte ich mich in Henry und freute mich  schließlich sogar auf unsere Hochzeit im Mai. Doch um Rose machte ich mir große Sorgen. Mich ließ das Gefühl nicht los, das William bloß mit ihr spielte und ich konnte nur hoffen, dass er wenigstens seine Reißzähne von ihr ließ.

 

Fortsetzung folgt....